Ein politischer Kommentar von Jobst Landgrebe
Nach Jahrhunderten von Zwietracht und Krieg zwischen den Völkern Europas ist die heutige EU eines der erfolgreichsten Friedens- und Wohlstandsprojekte der Neuzeit. Doch dieses Vermächtnis der letzten 50 Jahre ist nun gefährdet, weil die EU sich in eine fatale Richtung entwickelt. Dies zeigt das Beispiel des Euro sehr deutlich. Die politische Elite der Euro-Mitglieder verbindet mit dem Euro die Idee des vereinten Europa und hat die gemeinsame Währung deswegen geschaffen. Doch der Euro ist an den strukturellen Differenzen seiner Mitgliedsländer gescheitert. Um ihn dennoch gegen jegliche ökonomische Vernunft zu erhalten, brechen die Eliten geltendes Recht und wollen nun eine Banken- und Fiskalunion schaffen. Sie wollen dafür staatliche Gewalt weg von den Nationalstaaten auf einen europäischen Superstaat verlagern. Dies ist nach geltendem EU-Recht problematisch, was auch die Tatsache zeigt, dass bei der Schaffung der Bankenunion ständig eine Revision der EU-Verträge im Raume steht, weil sie eine bisher nicht vorgesehene Kompetenzzentralisierung bedeuten würde, was durch legalistische Tricks umgangen wird. Dabei entsteht ein Legitimitätsdefizit, da diese Gewaltverlagerung geschieht, ohne einen dafür erforderlichen neuen Gesellschaftsvertrag zu schaffen, dem die Bürger direkt zustimmen könnten.
Die Vorstellung des Gesellschaftsvertrags ist für das Verhältnis von Staat und Bürgern von zentraler Bedeutung. Eine wichtige Grundlage für das Zusammenleben nach dem Muster des Gesellschaftsvertrags ist allgemeines Vertrauen in die Funktionalität des Staats und seiner Institutionen. Grundlage dieses Vertrauens sind gemeinsame Kultur und Geschichte sowie kulturelles Zusammengehörigkeitsgefühl. Das so fundierte Vertrauen macht die Annahme plausibel, dass die Mitbürger sich generell an den Gesellschaftsvertrag halten, auch und besonders diejenigen mit Staatsämtern – also der Staat.
Ist ein solcher Gesellschaftsvertrag für den europäischen Staatenverbund denkbar? Warum und mit welchem Ziel sollte der souveräne Bürger ihn einführen? Die politische Elite hat mit dem Ziel der Herstellung und Sicherung von Frieden, Wohlstand und Sicherheit danach gestrebt, einen europäischen Staat zu schaffen. Dieser sollte von den Nationalstaaten zunehmend staatliche Aufgaben übernehmen. Bald wurde jedoch klar, dass dabei Legitimitätsdefizite entstanden, da die Zentralisierung von Staatlichkeit nur im Rahmen von zwischenstaatlichen Verträgen erfolgte; die Ausübung staatlicher Gewalt auf EU-Ebene wird nicht ausreichend durch Gewaltenteilung und demokratische Öffentlichkeit kontrolliert. Der Versuch, dieses Defizit mit Hilfe eines Gesellschaftsvertrags (europäische Verfassung) zu korrigieren, ist 2005 am Souverän gescheitert. Der Grund dafür liegt im mangelnden Vertrauen der europäischen Bürger zueinander. Es reicht nicht aus, um auch nur teilweise auf den Nationalstaat zu verzichten: Die Bürger trauen einander nicht zu, sich über nationale Grenzen hinweg als Vertragspartner an den Gesellschaftsvertrag zu halten. Denn ihnen fehlt die gemeinsame kulturelle Basis und sie wissen sehr genau, wie groß die (kulturell begrüßenswerten) Differenzen innerhalb Europas sind. Diese spiegeln sich in den strukturellen Unterschieden der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit wider. Die Strukturdifferenzen haben zum Scheitern der gemeinsamen Währung geführt.
Eine direkte Zustimmung des Souveräns zur Bildung eines europäischen Staates mit Banken- und Fiskalunion, die für die Aufrechterhaltung des Euro erforderlich wäre, wird unter diesen Umständen nicht erfolgen. Der von den Eliten dennoch vorangetriebene Prozess der Schaffung eines europäischen Staates ohne Gesellschaftsvertrag verspricht keinen Erfolg: dies zeigen gescheiterte Projekte der Staatlichkeit ohne Gesellschaftsvertrag wie die UdSSR oder Jugoslawien. Wenn Schuldenvergemeinschaftung, Inflation und Staatsbankrott die Grundlagen des Wohlstands erodieren, wird der Souverän sich endgültig vom europäischen Projekt verabschieden.
Doch für Wohlstands und Frieden in Europa wäre es fatal, wenn die Idee einer vertieften europäischen Zusammenarbeit auf diese Weise diskreditiert würde. Sie ist dort sinnvoll, wo der Nationalstaat versagt oder nicht handlungsfähig ist: beim gemeinsamen Markt, beim Klimaschutz sowie der Außen- und Sicherheitspolitik. In diesen Bereichen sind die tiefliegenden Interessen in Europa trotz oberflächlicher Differenzen recht einheitlich, und hier gibt es auch weniger nationales Missbrauchspotential als in der Währungs- und Fiskalpolitik. Wenn die Krise der Währungsunion nicht zur Krise unserer Gesellschaftsform werden soll, muss die Idee supranationaler Staatlichkeit von der Währung auf Bereiche mit hohem, plausiblem Bedarf verlagert werden. Der Ausweg aus der Krise besteht also darin, den Euro aufzulösen und gleichzeitig für überstaatliche Strukturen in den Bereichen zu werben, in denen sie wirklich benötigt werden. So ließe sich die Idee eines vereinten Europa mit Aussicht auf Zustimmung durch die Bürger realisieren – und wenn sie dazu noch nicht bereit sind, muss die Politik bei zwischenstaatlichen Lösungen bleiben, bis die kulturelle Entwicklung das erforderliche Vertrauen ermöglicht.
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